Leseprobe Der Kobold
Die letzte Fahrt
„Ich habe genug für heute!“ sagte Dirk Greven und stellte den Billardquere zurück in den Wandhalter, als Frank die Acht in einem Eckloch versenkte. „Noch ein Spiel!“ forderte Frank Hochland Dirk auf. „ Nein...Nein, wenn ich noch eine Partie verliere, dann muss ich bitterlich weinen!“ gab Dirk seinem Freund scherzhaft zurück. Er nahm seine mittlerweile warm gewordene Cola und trank sie in einem Zug leer. „ Na gut, das will ich ja nicht verantworten!“ lenkte Frank ein und fügte noch hinzu: "Außerdem ist es schon spät geworden und ich habe morgen früh eine Klausur zu schreiben“. Dirk und Frank kannten sich schon aus den Grundschultagen, und hatten schon so mannsches Billardspiel bestritten, aber heute rollten die Kugeln für Dirk schlecht – sehr schlecht. Frank stellte ebenfalls seinen Queue in den Wandhalter zurück und folgte Dirk vom hinteren Billardsaal, der für drei Tische Platz bot, in die vordere Abteilung des Billardbistros durch den schmalen Gang an der Theke vorbei, wo die vielen kleinen runden Stehtische standen. Es waren noch eine Menge junge Leute, Mitte Zwanzig, dabei ihre Kehlen mit Bier und andern Getränken zu füllen. Hier spielte auch die Musik lauter als im hinteren Teil des Billardcafés, wo die Spieltische standen. „Heute übernehme ich!“ sagte Dirk und nahm Frank den Bierdeckel aus der Hand. Er legte beide Deckel auf die schwarz lackierte Holztheke und wartete bis Tanja, eine brünette Schönheit, die Deckel zusammenrechnete.“17,50 Dirk“ sagte sie, während ihre Augen noch auf dem Bierdeckel verweilten. Dirk zückte einen Zwanziger aus seiner Tasche und sagte: “Stimmt so, Tanja, war ja heute ein billiger Abend!“. Beim nächsten Mal wird es nicht so billig!“ mischte sich Frank ein. Sie verabschiedeten sich mit einem Handgruß und verließen das Bistro durch die holzumrahmte Glastür und seine nachfolgenden drei kurzen Stufen. Nach dem Verlassen des Bistros klang die Musik nur noch gedämpft an ihre Ohren. „Am Wochenende will ich Revanche, ist dir wohl klar!“ sagte Dirk, wobei er das Schloss vom Fahrrad öffnete, indem er sich hinkniete. Schnell war es an seiner Haltevorrichtung unter dem Sattel befestigt. „Du denkt, weil du bis dahin einen Queue gekauft hast, verbessern sich deine Chancen?!“ verhöhnte ihn Frank, der zu seinem Auto ging. Sein blauer Ford Fiesta, dessen beste Zeiten schon längst vorbei waren, stand ganz in der Nähe von Dirks Fahrrad. Er stand, wie üblich, schief geparkt auf dem Parkplatz, eines seiner Markenzeichen, wie das Tragen verschiedener Socken. Als Frank den Motor startete, saß Dirk schon auf seinem roten Mountainbike von Klein. Er fuhr langsam neben die Fahrerseite und klopfte an die Scheibe, was eher symbolisch zu sehen war. Frank, veranlasste noch schnell das Zurückspulen seiner Lieblingskassette, The Madman´s Return von Snap, und während die Rythmen von The Power erklangen, kurbelte er die Seitenscheibe runter und suchte mit Dirks Augen den Blickkontakt . „Was meinst du am Samstag um 20.00 Uhr?“ fragte Dirk, der sich mit einer Hand am Autodach abstütze. “Ok ... Ich werde hier sein! Üb am besten schon mal!“ antwortete Frank mit der letzten Aufforderung. Dirk schaute ihn argwöhnisch an und sie gaben sich einen Handclap durch das offene Fenster, um ihre Verabredung zu besiegeln. Dirk wartete nicht erst ab, bis Frank losfuhr, er trat sogleich in die Pedalen und zwar so stark, daß sein Vorderrad abhob und erst nach ein paar Metern den Boden wieder berührte. Frank hupte noch mal, als er an der Kreuzung nach links abbog um nach Bensberg zu fahren, wo er mit seiner Freundin in einer drei Zimmer Wohnung lebte. Dirk hörte, wie Frank das Beste an seinem Auto, seine Musikanlage aufdrehte, und die Bässe das Nummernschild zum Vibrieren brachten. Es gab zwei Möglichkeiten um vom Refrather Billardbistro nach Alt – Brück zu gelangen, wo Dirk wohnte. 1. Die Hauptstraße runter und quer durch Refrath, oder 2. der schnellere Weg, direkt durch den Wald. Dirk entschied sich für den Wald, diese Route wählte er meistens, es sei denn er benötigte noch etwas von der Tankstelle, kurz vor der Autobahnauffahrt. Er kramte etwas mühselig seinen Walkman aus der Hosentasche, doch zu seiner Enttäuschung musste er feststellen daß er leierte. So stopfte er ihn missmutig in seine Hosentasche zurück. Das kurze Straßenstück, das er befahren musste, war gut ausgeleuchtet und nur von parkenden Autos der anliegenden Häuser bevölkert. Dirk fuhr oft in den Straßen der Ortschaften und kannte jeden Schleichweg. Nach kurzer Zeit erreichte er den letzten geteerten Weg, bevor er in den dunklen Wald tauchte. Hier standen auch die letzten lichtspendenden Laternen. Auf seinem Lenker befanden sich zwei Halogenlampen, die er unterschiedlich ausgerichtet hatte. Eine strahlte nur einige Meter knapp vor ihm auf den Boden um eventuelle Hindernisse auszumachen, die andere strahlte weit nach vorne weg. Die Schlusslampe würde er heute nicht brauchen wenn er durch den Wald fuhr. Um den Akku zu schonen, schaltete er sie erst ein, als er durch die Unterführung fuhr, die ihn in den Brücker Hard brachte. Sofort veränderte sich das Fahrgeräusch durch den erdigen Waldweg, der gleich nach der Unterführung anfing. Jetzt musste er eine kleine Steigung bewältigen, die seinen Körper gerade warm werden ließ. Trotz der Dunkelheit konnte Dirk die Umrisse der Bäume erkennen, die außerhalb der Lichtkegel seiner Halogenlampen waren. Der neben ihm verlaufende Reiterweg erinnerte ihn daran, daß er gerne in dem Matsch, der noch in dem Weg steckte, seine Crossleidenschaften auslebte. Nach mehreren Hundert Metern trennte sich der Reiterweg ab und lenkte in den Wald ein, um später in einiger Entfernung parallel neben dem Hauptweg zu verlaufen. Dirk traf auf den Hauptweg, an dem eine Schutzhütte aus Holz stand. Sie wird gerne von den Leuten benutzt, wenn sie ein Regen überrascht, oder sie einfach eine Pause einlegen möchten. So eine Schutzhütte, die auch am Trimm-dich-Pfad stand, nutzten Dirk und seine Freunde schon oft als Fetenhütte im Sommer, wo sie auch mit ihren Schlafsäcken übernachtetn. Im Wald überkommen einen immer die seltsamsten Empfindungen, gerade wenn man weit und breit keine Menschenseele antrifft und im Dunklen erst recht. Dichte Wolken schirmten das Sternenlicht ab und so war es, bis auf die zwei Strahlen seiner Halogenlampe stockdüster in diesem Wald. Die Finsternis machte Dirk nichts aus. Er war diesen Weg schon sehr oft nach Hause gefahren, und wäre wahrscheinlich auch blind durchgekommen. Ab und zu war das auch schon mal der Fall, nämlich immer dann, wenn ihn mal wieder sein Akku im Stich ließ. Plötzlich überkam ihn ein seltsames Gefühl -nach einer Weile wusste er auch warum. Bei all seinen Fahrten war es nie so ruhig gewesen. Man hörte immer etwas und wenn es nur ein Rasseln war, oder eine schreiende Katze, die man für ein Baby halten könnte. Wenn man es nicht besser wüsste – der Wald war sonderbar still. Dirk fuhr weiter ohne sich in Gedanken darüber zu verlieren, bis er ein lautes Brechen hörte, das ihn aufschrecken ließ. Es hörte sich an, als ob jemand durch das dichte vertrocknete Unterholz neben ihm raste. Ein Geräusch, wie wenn ein Tier kurz hinter ihm aus dem knackendem Unterholz auf den Weg sprang auf dem er fuhr, ließ ihn erschaudern. Dirk war keiner der schnell Angst bekam und in der Nacht waren ihm schon des öfteren Wildschweine und Ähnliches begegnet, doch diesmal war es anders. Kein Wildschwein oder Dammwild würde ihn verfolgen. Das Wild würde erschrecken und davon eilen. Doch das Tier hinter ihm, schien Dirk zu jagen. Dirk der nie langsam fuhr, fragte sich, welches Tier ihm im Wald nachstellen würde. Automatisch dachte er an einen Hund und wollte gerade die Bremsen ziehen, als ihm einfiel, daß er im tollwutverseuchten Waldgebiet radelte, und ein Biss von einem tollwütigen Hund in seine Wade würde mehr als ärgerlich sein. Es musste der wild gewordene Hund sein, von dem er heute morgen gehört hatte. Er trat fester in die Pedalen und erhöhte auf den 18. Gang seiner Schaltung. „Wollen mal sehen wer schneller ist, mein Freund!“ rief er laut für seinen Verfolgter. Dirk kann sehr schnell fahren und hat eine Menge Kraft. Es gehört schon was dazu an ihm dran zu bleiben. Sein Instinkt verursachte eine natürliche Reaktion in seinem Körper, eine Gänsehaut lief seinen Rücken hoch. Noch immer beschleunigte Dirk und trat jetzt im 20 Gang. Die dicken Mäntel seiner Räder, pfiffen leicht durch den entstandenen Zugwind. Dirk konnte seinen Verfolger nicht abschütteln, denn seine Trab-Geräusche wurden lauter. Daß es Trab-Laute waren, irritierte Dirk nun doch, denn ein Hund, so wild er auch wäre, läuft lautlos. Dirk mußte es wissen. Er schob eine Halogenlampe aus ihrer Verankerung, beendete das Trampeln, um sich leichter drehen zu können, und strahle nach hinten. Längliche böse Augen reflektierten in seinem Licht. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde bis sich ein grausiges Bild in seinem Kopf formte. Aus Schreck was er dadurch sah, ließ er die Lampe fallen. Ein seltsam gestalteter Fuß trat sie kaputt. Dirk erhob sich vom Sattel und legte das ganze Gewicht in seine Beine um die Geschwindigkeit zu steigern. Er konnte nicht glauben, was er gesehen hatte. Es war unmöglich - so was gab es gar nicht. Aber dieses "gab es gar nicht" verkürzte weiter seine Entfernung vom mittlerweile vor Anstrengung keuchenden Dirk. Er holte sich das kurze Bild das er gesehen hatte zurück in seine Gedanken, doch er konnte das Gesehene nicht glauben, im Gegensatz zu seinem Körper, der zu diesem Zeitpunkt Adrenalin in seine Adern pumpte. Sein Pulsschlag, durch das schnelle Radfahren ohnehin schon erhöht, drohte seine Adern zu zerfetzen. Noch nie in seinem bisherigen Leben hatte er eine so große Angst gespürt. Er wurde aber auch noch nie von diesem Wesen gehetzt. Dirks Beinmuskulatur schwoll durch die Anstrengung an und begann zu brennen. Die Beine schmerzten fürchterlich und die ganze Haut war nass geschwitzt, wodurch seine Blue Jeans an den Beinen klebte. Doch all dies war Dirk scheißegal, er wollte nur weg, so schnell wie möglich weg aus dem verdammten Wald. Rasende Angst beflügelte ihn immer stärker werdend und veranlasste Dirk zum schnelleren Fahren. Jetzt konnte er schon die große Laterne sehen, die an der alten großen Kastanie stand, gleich an der rettenden Straße in der er wohnte. Wenn die Kastanien gefallen waren, hatte er sie oft in Kindertagen mit seinem Freund aufgesammelt und sie aus ihren dornigen Schalen befreit, um mit Zahnstochern die lustigen Figuren zu basteln. Als die Fahrradzeit kam, verfluchte er sie genauso oft, weil sie ihm viele platte Reifen beschert hatten. Doch jetzt betete er für einen platten Reifen wenn er die Kastanie erreichen würde, er würde ihr sogar Reifen opfern. Doch der Wildwechsel, die Straße gleich am Waldrand, war noch über einen Kilometer entfernt und Dirk konnte nur deshalb die Laterne sehen, weil der Hauptweg schnurgerade durch den Wald verlief, daher war dies auch die kurze Strecke nach Hause. Das letzte Stück – dachte Dirk – ich muss es schaffen. Der Schmerz in seinen Beinen wurde unerträglich und sein Herz drohte aus dem Brustkorb zu springen. Um zusätzlich Geschwindigkeit zu erlangen, schwabbte Dirk sein Fahrrad mit seinen Armen hin und her. Seine Gangschaltung war schon länger im letzten Gang, den 21.. Auf Dauer konnte Dirk diesen Spurt nicht halten. Es war auch nicht mehr nötig - wenigstes für Einen der Beiden. Dirk hörte hinter sich keinen Laut mehr, was ihn innerlich aufatmen ließ. Doch fast im selben Augenblick, spürte er, das etwas in seinen Rücken gesprungen war. Das war auch der Grund für die vorüber gehende Stille. Die Stille vor dem Sturm. Ein schweres Gewicht zog ihn nach hinten. Lange starke Krallen bohrten sich in sein Schulterfleisch. Er merkte, wie die scharfen Krallen an seinen Schultergelenken kratzten. Das Einschneiden der Krallen, brennt wie Feuer in seinen Nervenbahnen. Zwei weitere Krallenpaare dringen in seine Hüftseiten ein, und treffen beim Durchdringen des Muskelgewebes auf seine Eingeweide, die sich wie Butter teilen. Durch den Schmerz in seiner Schulter läßt Dirk den Lenker los und versucht die Krallen zu ergreifen. Zusammen veriert die neu gewordene Einheit zweier ungleicher Wesen das Gleichgewicht und stürzt in voller Fahrt über den Waldweg bis zum unvermeidlichen Fall. Dirk schreit vor Schmerzen und Angst, einer unsagbaren, grauenvollen Angst. Doch das erbarmungslose Wesen löst seine Krallen nicht. Mit aller Kraftanstrengung, versucht Dirk seinem Schicksal und somit seinem Peiniger zu entkommen. Trotz der vielen unerträglichen Schmerzen robbt er über den Boden des Weges. Doch wie will er fliehen, wenn der Gegner in ihm festgekrallt auf seinem Rücken sitzt? Der hohe Pulsschlag beschleunigt den Blutaustritt und Dirk legt bei seinem Fluchtversuch eine Spur des Todes. Vielleicht wäre er ohne das ausgeschüttete Adrenalin ohnmächtig geworden, doch dadurch, daß er so aufgepumpt ist, verweigert ihm sein Körper die Ohnmacht. Die rasiermesserscharfen Krallen in seinen Schulterblättern bewegen sich, als würden sie einen Teig kneten und Dirk ist für das Wesen nichts weiter als Teig, blutiger wohl riechender Teig. Vor wenigen Augenblicken noch wollte Dirk um alles in der Welt sein Leben retten. Doch jetzt will er einfach nur Sterben. Die Schmerzen und die Angst lassen ihn wahnsinnig werden. In diesem Moment werden für ihn Sekunden zu Minuten und Minuten zu Stunden. Es zieht noch etwas Anders an seinem Rücken, als ihm klar wird was es ist, drehten sich seine Augen ins Schwarze, doch ist er noch immer bei Bewusstsein. Stückeweise wird ihm das Fleisch aus dem Rücken gerissen, er fühlt, wie sich sein Rückenfleisch erst durch einen Biss zieht und dann zurück schnellt. Dirk hört laute Kau-Geräusche, er wird lebendig gefressen. Aber schreien kann Dirk nicht mehr, es kommt nur noch ein Wimmern aus seinem Mundwinkel hervor. Wieso starb er nicht einfach, es war der einzige Wunsch den er noch hatte – nur Sterben. Die rausgerissen Rückenstücke sind zu klein um ihn zu töten. Der Tod den er herbei sehnt, würde ihn von seinen Höllenquallen erlösen. Eine Kralle in seiner Schulter löst sich und zieht eine Sehne mit sich. Sie wurde nur gelöst um erneut zu verschwinden. Die scharfen schwarzen Krallen durchschlagen die dünne Halswand und berührten sich in seiner Speiseröhre. Dirk fühlte wie das warme Blut aus seiner Halsschlagader in seinen Rachen strömt und sich in der Lunge sammelt. Jetzt erlöst Dirks Körper ihn von seinen Quallen, er pumpt Endorphine in die Blutbahn und so verspürt er keinen Schmerz mehr, sein Lebensfilm läuft vor ihm ab, sein letzter Gedanke: der Wald in dem er immer spielte als Kind. Zweimal spuckte Dirk Blut aus seinem Schmerz verzogenem Gesicht, bevor er in seinem eigenen Blut ertrank.
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